China im Westen
Die Chinesisch-Deutsche Kunstakademie, an der ich als Dozentin, Kulturvermittlerin und Übersetzerin tätig bin, ist ein Gemeinschaftsprojekt der China Academy of Art in Hangzhou (VR China) und der Universität der Künste in Berlin. Studierende aus China können an dieser transkulturellen Kunstakademie ein Masterstudium in den Bereichen Freie Kunst oder Gestaltung absolvieren.
Im Unterricht, der grösstenteils von deutschen Dozenten abgehalten wird, stehen sich meist deutsche Lehrende und chinesische StudentInnen gegenüber. Wir haben es also mit einem Gefüge zu tun, das in gewisser Hinsicht ein bestehendes geopolitisches Ungleichgewicht widerspiegelt, dessen Problematik zwar normalerweise nicht offen zutage tritt, in der Zusammenarbeit aber dennoch latent mitschwingt.
Studierende wie Lehrende treten einander grundsätzlich offen entgegen, so dass in erster Linie der zwischenmenschliche Kontakt über allen kulturellen und geopolitischen Differenzen steht. In diesem Sinne scheint die konfuzianische Aussage zuzutreffen: „In ihrem Wesen sind sich die Menschen nahe, in ihren Gewohnheiten sind sie sich fern.“
Im täglichen Unterricht stellen wir allerdings grundsätzliche Unterschiede fest, insbesondere was die Denkweisen betrifft. So scheint sich auf deutscher Seite das Denken stark an der Gegenwart und an der westlichen Hemisphäre zu orientieren, während auf chinesicher Seite immer die Relationen von Tradition und Moderne wie auch von Ost und West im Mittelpunkt stehen.
So sehen sich beispielsweise Studienanfänger immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass ihre Erwartungen, zu lernen was deutsche Kultur sei, enttäuscht werden. Fragen wie „Können Sie uns etwas über das ästhetische Verständnis in Deutschland erzählen?“ stossen meist ins Leere, und die Studierenden verstehen nicht, warum die deutschen Dozenten die Eigenheiten ihrer Kultur nicht vermitteln können. Es muss dann darauf hingewiesen werden, dass solch übergreifende Fragen nicht angebracht sind, und dies möglicherweise weil die meisten Menschen im Westen nicht die Gewohnheit haben, ihren kulturellen Hintergrund von aussen zu betrachten, sich also nicht wie die Chinesen in Relation zu einem grundsätzlich anderen kulturellen System verstehen.
Innerhalb des westlichen Kulturraumes neigen wir dazu, uns als „Weltbürger“ zu sehen und uns anderen Kulturen gegenüber kein bewusstes Überlegenheitsgefühl einzugestehen – die faktische Überlegenheit verwischt die Unterschiede. Die Unterschiede sind dann fühlbar, wenn wir davon beeinträchtigt werden, wenn wir auf der falschen Seite stehen. So stellte ein chinesischer Student der Kunstakademie anfang der 90er Jahre sarkastisch fest: „Ihr Leute im Westen glaubt einfach die Welt gehöre euch. Und wir – wir glauben auch, die Welt gehöre euch!“
Wie ist angesichts solch grundsätzlicher Unterschiede und Missverhältnisse das gegenseitige Verstehen überhaupt möglich? Nach meinen persönlichen Erfahrungen ist dies ein Prozess, der sich über Jahre hinweg vollzieht: Vom Unverstehen über Spekulationen zu beginnendem Verstehen bis hin zum direkten oder intuitiven Erfassen. Der Prozess des Verstehenlernens muss letztlich eine Wandlung der eigenen Person bewirken und kann im Extremfall bis zur persönlichen Assimilation führen. Das rein intellektuelle Verständnis ist im Grunde unzureichend, es gilt vielmehr, in einem steten Lernprozess Unterschiede immer wieder neu erfühlen zu lernen und in das persönliche Empfinden zu integrieren.
So stossen wir in einem chinesischen Umfeld oft auf Situationen oder Verhaltensweisen, die wir nicht verstehen können, beispielsweise wenn wir merken, dass uns jemand anlügt. Dies hinterlässt ein unangenehmes Gefühl und wir beginnen zu spekulieren. So beklagte sich z.B. ein amerikanischer Freund über die Chinesen: „Es ist eine Schande, dass die immer lügen!“ Ein deutscher Filmregisseur schloss während seiner Reise durch China: „Sie wollen uns aus politischen Gründen nicht die Wahrheit sagen.“ Sind wir aber neugierig und offen genug, es nicht bei ersten Antworten zu belassen, kommen wir durch weitere Informationen möglicherweise zu einem differenzierteren Verständnis, z. B. der Tatsache, dass in China gewisse Lügen nicht als moralisch verwerflich sondern als legitime Ausreden zur Wahrung des Gesichts verstanden werden. Durch stetige Erfahrung und Beobachtung wird wiederum deutlich, welche Lügen in welchen Situationen legitim empfunden werden und welche nicht. Mehr und mehr persönliche Kontakte zeigen schliesslich was für Menschen oder soziale Gruppierungen eher zu „Lügen“ neigen und welche weniger. Eine Lüge ist eine Lüge ist keine Lüge. Deasselbe gilt für viele andere Begriffe, und zwar für alltägliche wie „Freundschaft“, „Individualität“, „Moral“, „Liebe“ ebenso wie für politisch brisante wie „Menschenrechte“, „Meinungsfreiheit“, „Demokratie“. Wir verstehen unter einem Begriff dasselbe und doch nicht dasselbe. Ob und wie wir mit den unterschiedlichen Haltungen umgehen können liegt zu einem grossen Teil an der persönlichen Fähigkeit zu gegenseitiger Toleranz. Ebenso entscheidend ist die Frage, ob wir gewillt sind unvoreingenommen aufeinander zuzugehen und einander zuzuhören.
Der Prozess des Verstehenlernens ist eine grosse Chance, gegenseitige Missverständnisse überhaupt als solche verstehen zu lernen, um anschliessend damit umgehen zu können. In Konfrontation mit der chinesischen Kultur sind wir heute, da der ökonomische Aufstieg Chinas das geopolitische Ungleichgewicht gegenüber dem Westen abzuschwächen beginnt, gerade am Anfang eines gegenseitigen Verstehensprozesses und haben endlich die Möglichkeit, auf gleichwertiger Basis unsere gegenseitigen Missverständnisse zu orten.