Der flexible Künstler: Einige Prämissen
Meine Hauptprämissen
- Künstler sind flexible Arbeiter aus Notwendigkeit, nicht aus Überzeugung.
- Deshalb bieten sie nicht oder noch nicht das Modell für den flexiblen Arbeiter der Zukunft.
Zuerst einige Fakten
Sie stammen von einer Untersuchung, die vor kurzem in Österreich durchgeführt worden ist. Die Resultate weichen nur wenig von den Resultaten einer früheren Untersuchung in Holland ab. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass dieses Zahlenmaterial für die meisten europäischen Länder als repräsentativ gelten kann.
1. Der typische Künstler ist heute einer, der mehrere Berufe ausübt. Ungefähr 75% aller Künstler haben einen zweiten Beruf, mit Bezug zum Kunstbereich und ohne Bezug zum Kunstbereich.
2. Die Hälfte aller Künstler muss mit Brüchen in ihrer Künstlerkarriere leben. Für 17% sind diese so unvorhersehbar, dass sie ihre Aktivitäten nicht planen können.
3. Der typische Künstler ist arm. Zwei Drittel aller Künstler verdienen jährlich weniger als 8Â’100 Euro aus ihrer Arbeit als Künstler.
4. Die 75% der Künstler, die einem zweiten Beruf nachgehen, haben in diesem einen höheren Stundenlohn als im Kunstbereich. Das Einkommen aus Zweitberufen erhöht den Gesamterwerb beträchtlich. Dennoch sind Künstler arm. Die Hälfte aller Künstler verdienen durch Arbeit jährlich weniger als 12Â’400 Euro, und ein Drittel der Künstler jährlich weniger als 8‘400 Euro.
5. Berücksichtigt man das Gesamteinkommen, lebt ein Drittel der Künstler an der oder unter der Armutsgrenze, wie sie von der Europäischen Union definiert worden ist. Für die Gesamtbevölkerung beträgt dieser Wert 12% und für Berufsschaffende mit einem vergleichbaren Ausbildungsstand ist sie noch wesentlich tiefer.
6. Bereits seit Jahrzehnten sind Künstler ausserordentlich arm.
7. Im Durchschnitt sind die Eltern von Künstlern gut ausgebildet und vermögend; sie sind besser ausgebildet und vermögender als die Eltern von andern Berufstätigen mit einem ähnlichen Ausbildungsstand.
Weitere Prämissen:
Warum sind Künstler arm? Einige Antworten, die sich teilweise überlappen und sich manchmal widersprechen:
a. Weil es viele Künstler gibt (nicht unbedingt zu viele).
b. Weil der Kunstbereich und deshalb die Arbeit im Kunstbereich ausserordentlich attraktiv ist.
c. Weil der typische Künstler bereit ist, im Kunstbereich für ein Einkommen zu arbeiten, das viel tiefer ist als das in vergleichbaren Berufen.
d. Weil der typische Künstler von seiner Arbeit im Kunstbereich einen grösseren nicht monetären Gegenwert zurück erhält als andere Berufstätige von ihrer Arbeit.
e. Weil Künstler sich selber in der Armut halten.
f. Weil Künstler Künstler sind.
Im aktuellen Kontext ist die Antwort “Künstler halten sich selber in der Armut” wichtig.
I. Wenn Künstler mehr Zeit für ihre Zweitberufe aufwänden würden, müssten sie nicht arm sein. Den meisten von ihnen würde zudem noch immer viel Zeit für ihre Arbeit als Künstler zur Verfügung stehen.
II. Der typische Künstler minimiert jedoch seinen Aufwand für den besser bezahlten Beruf im Nicht-Kunstbereich und bleibt deshalb arm. Wenn der Künstler mehr Geld verdient, egal aus welcher Quelle, reduziert er die Arbeitszeit für den unkünstlerischen Beruf (und/oder er kauft Ausrüstung, besucht Meisterkurse usw.). Wenn er weniger Geld verdient, verwendet er mehr Zeit für seinen unkünstlerischen Beruf.
III. Deshalb ist der typische Künstler ein flexibler Arbeiter par excellence. Aber auch ein flexibler Arbeiter der minimalistischen Art. Der eine Beruf hat Vorrang, die anderen sind nur Mittel zum Zweck, damit er als Künstler arbeiten kann.
IV. Wenn Künstler genügend Geld verdienen, arbeiten sie Vollzeit im Kunstbereich und hören auf, flexible Arbeiter zu sein.
V. Deshalb sind Künstler flexible Arbeiter aus Notwendigkeit und nicht aus Überzeugung.
VI. Das gleiche Argumentarium kann auf die Arbeitszeit angewendet werden, die für die eigene Kunst verwendet wird, und Kunst, die zwar einen höheren Stundensatz einbringt, aber nicht als die ureigene Kunst, als „autonome“ Kunst oder „echte“ Kunst erfahren wird. Der typische Künstler minimiert die Arbeit an der unechten Kunst, um so viel Zeit wie möglich für die Produktion echter Kunst zu haben.
a. Alle diese Prämissen sind zugespitzt formuliert. Typische Künstler machen immer Kompromisse, ältere mehr als jüngere.
b. Dass der typische Künstler tatsächlich arm ist, beweist, dass die Prämissen in etwa zutreffend sind.
c. Es beweist auch, dass der Kunstbereich immer noch sehr speziell und ausserordentlich attraktiv ist. Der Romantizismus, der die Kunst umgibt, ist immer noch wirksam.
d. Es gibt jedoch Minderheiten, für die diese Prämissen nicht oder nur in geringerem Masse zutreffen.
e. Es gibt eine wachsende Anzahl von Künstlern, die ein ganzes Portfolio von Berufen im Kunstbereich, in Kunst verwandten Bereichen und/oder im Nicht-Kunstbereich vorweisen können. Die Befriedigung, die die anderen Berufe mit sich bringen, reicht ihnen aus, um nicht Vollzeit als Künstler arbeiten zu wollen, auch wenn es finanziell sogar möglich wäre. Diese Künstler könnten ein Modell für den unbekümmerten, flexiblen Arbeiter der Zukunft bieten.
f. Von Zeit zu Zeit haben jedoch viele dieser Künstler – und ich will mich da nicht ausnehmen – Schuldgefühle, weil sie nicht so viel Zeit wie möglich für die Kunst aufwänden, und weil sie dafür also nicht genug engagiert sind. Da wirkt immer noch die Kraft der romantischen und „heiligen“ Kunst.
Einige “Bonus”- Prämissen
- Ein Durchschnittskünstler nimmt eine relativ hohe soziale Stellung ein. Deshalb kann der typische Künstler seine Berufe gut organisieren und auch mit Geld umgehen. Der Habitus des Künstlers verstärkt dies. Dies trifft auchzu, wenn Leute und besonders Künstler das Gegenteil behaupten. Im Allgemeinen sind Künstler gute Kulturunternehmer, gewieft im flexiblen Ausüben verschiedener Berufe.
- Als Kulturunternehmer interessieren sich Künstler nicht sehr dafür, woher das Geld kommt: vom Markt oder von der öffentlichen Hand, von Partnern, Kunstliebhabern etc., solange sie damit direkt oder indirekt ihr „eigenes Ding“ durchziehen können.
- Gelder vom Markt oder vom Staat können nur ein Mittel zum Zweck sein, das ihnen die Zeit verschafft, „echte“ Kunst zu produzieren. Jedoch glauben Künstler im Allgemeinen, dass eher der Staat als die Konsumenten ihr „eigenes Ding“ kauft. Deshalb ist für die meisten Künstler der Unterschied zwischen den zwei Bereichen immer noch wichtig.
- Weil Künstler flexible Arbeiter und Minimalisten sind, erhöhen Subventionen, welche eigentlich die Reduktion von Armut zum Ziel haben, nicht das Durchschnittseinkommen, sondern sie generieren nur noch mehr arme Künstler.
- Viele Künstler können es sich leisten, arm zu sein, weil (a) sie sich, wie oben beschrieben, selber in der Armut halten, indem sie ihren Zweitberuf minimieren, und weil (b) sie relativ vermögende Eltern haben. Daher ist für sie der Beruf im Kunstbereich weniger risikoreich, als es scheinen mag. Viele Künstler wissen unbewusst, dass, wenn alles schief geht, sie auf ihre Familien oder andere Menschen in ihrem sozialen Umfeld zählen können.
- Deshalb sind (Durchschnitts-)Künstler privilegiert und brauchen nicht bemitleidet zu werden.
(Übersetzt von Adi Blum)