─ Sharon Fernandez
Miss/Verständnis
 

Die agonistische und integrative Funktion von Meinungsverschiedenheiten

Ich möchte in dieser Präsentation das Missverständnis aus einer multidimensionalen Perspektive und in einer Verschachtelung von übergreifenden Kontexten erkunden. Ich will dies auf zwei Arten tun. Zuerst möchte ich auf ein paar „Lebensthemen“ zu sprechen kommen, die uns alle betreffen, Förderer, Urheber, Vermittler oder Veranstalter. Dann suche ich einen Zugang zur Thematik über drei Metaphern: Planet, Körper und Geist. Vielleicht lassen sie sich mit den drei Strängen dieser Konferenz: Kunst, Wirtschaft und Politik, einfach verbinden.
Wie wir alle wissen, geht es bei Missverständnissen auf der elementarsten Ebene um fehlende Kommunikationskompetenz und um die Unfähigkeit zuzuhören, um das Bild zweier Menschen, die voreinander stehen, jedoch aneinander vorbei schauen. Sie sehen nicht, sind nicht aufmerksam, nicht neugierig, nicht grosszügig und nicht offen. Woher kommen unsere Missverständnisse? Werden sie von unausgeglichenen Machtverhältnissen, einer Herrschermentalität, Dummheit, ungleichen Zielvorstellungen, Selbstgefälligkeit, verschiedenen kulturellen Kodierungen und Klischeevorstellungen oder Vorurteilen verursacht?
Aus struktureller Sicht sind Missverständnisse nicht diskutierbar ohne eine Kritik des Zentrismus und ohne Kenntnis der bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Vieles, was auf globaler Ebene zu Missverständnissen führt, beruht auf unhinterfragten Prämissen und starren, dominanten Weltsichten: eine eindimensionale Betrachtungsweise der zeitgenössischen Ästhetik, eine hierarchische Bevorzugung einzelner Denkschulen.
Einen Gegenpol zu dieser eng reduktiven Hierarchie bildet das symmetrische Zusammenspiel von unterschiedlichen Perspektiven und Kulturen. Es entsteht eine gemeinsame reziproke Relativierung, die alle befähigt, die Beschränktheit der eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Weltsicht zu erkennen. Dies kann gewohnte Eitelkeiten verunsichern. Aber es bedeutet eine längst fällige Bejahung von historischer Transparenz, Erneuerungsritualen und Ko-Evolution. Auch innerhalb von institutionellen Konstruktionen stellt sich die Frage nach den metaphorischen und experimentellen Voraussetzungen, die eine Ungezwungenheit fördern im Bezug auf Grenzüberschreitungen, auf die Wertschätzung von Differenz und das Erkennen der situationsbedingten Flüchtigkeit sowie der historischen Pluralität der eigenen Identität und Vorlieben.
Auf Grund des sich ständig entfaltenden Wesens der menschlichen Zusammengehörigkeit und der kulturellen Prozesse, in denen wir verwurzelt sind, kann das Missverständnis im kulturellen Bereich als eine Voraussetzung für das Verständnis betrachtet werden. Können wir vorbehaltlos begrüssen, dass unsere linguistischen Strukturen Verhaltenssysteme sind? Die dialogische Dynamik der Sprache, die zentriert und dezentriert, kontextualisiert und rekontextualisiert, wandelt sich und erzeugt den Austausch von neuen Bedeutungen und unterläuft so „beidseitig tolerierte Vermeidungsrituale“.
Die Offenheit für kulturelle Unterschiede bringt die inhärente Gefahr mit sich, dass sich unsere Sprache und unsere Selbsterkenntnisstrukturen tiefgreifend wandeln. Wir laufen Gefahr, unser eigenes Bild im Spiegel unserer kulturellen Organisationen und Ministerien zu verlieren. Aber vielleicht ist das Wagnis, offen zu sein für fremde Ansichten und Standpunkte, der moralische Ursprung der Demokratie. (1)
Auf der politischen Ebene braucht es einen öffentlichen Bereich für einen kämpferischen kreativen Dialog, der mehr als episodisch und virtuell ist. Auch sind neue politische Modelle notwendig, die den gesellschaftlichen Machtverhältnissen entgegen treten können und hierfür Verfassungsgrundlagen vorschlagen, die auf anerkannten Grundlagen der Interdependenz basieren und so mehrstimmige Debatten möglich machen. Sie basieren auf den Menschenrechten, die den Ausdruck kultureller Differenz umreissen, unterstützen und erlauben. Es braucht einen komplexen multidimensionalen und dynamischen Rahmen, der individuelle Menschenrechte, Minoritätenrechte, Mehrheitsrechte und gesetzliche Regeln auszubalancieren und zu regulieren vermag. Dies sollte ein System sein, das ausdrücklich auf ein Geben und Nehmen, auf gegenseitige Verpflichtungen und auf Teilhabe baut.
Auf der Ebene des schöpferischen Individuums müssen wir bei uns selber anfangen, wenn wir die zerbrechliche Komplexität unserer gegenseitigen Abhängigkeit und unserer Verwurzelung im Gewebe der menschlichen Beziehungen erkennen wollen. Um das demokratische Projekt weiterzubringen, müssen wir eine metaphorische Vorstellungskraft entwickeln, mit deren Hilfe wir mitfühlende Verbindungen aufbauen und Kommunikationserfahrungen machen können, die anderen vorenthalten bleibt. Das sind „gattungsspezifische“ Fähigkeiten, die zum Kommunizieren und für das gegenseitige Verständnis notwendig sind. Das Ziel ist, wie Baumann schreibt, zu 'wissen, wie man fortfahren soll', aber auch zu wissen, wie man fortfahren soll angesichts anderer, die vielleicht auf eine andere Art fortfahren – und dazu auch das Recht haben.“ (2)

Vergleiche auch die Eröffnungsrede von Sharon Fernandez


Sharon Fernandez
Künstlerin und Strategin für institutionellen Wandel mit über 20-jähriger praktischer Erfahrung bei der Beratung von kulturellen Transformationsprozessen im Bereich von öffentlichen und Freiwilligen-Organisationen; sie lebt in Toronto.

Anmerkungen
(1) Monika Kin Gagnon and Scott McFarlane (2003): The Capacity of Cultural Difference.
(2) Zygmunt Bauman (1999): In Search of Politics.