─ Yusuf Yesilöz
Zwei Geschichten
 

Sehnsucht

Sehnsucht ist eine Uhr, die jedermann ständig mit sich trägt. Der Begriff «Sehnsucht, biri, özlem, hesret, longing, mutalahhiv, bromosso» klingt in jeder Sprache anders, hat aber in allen Sprachen etwa die gleiche Bedeutung.
Von Mensch zu Mensch oder von Kultur zu Kultur wird sie anders wahrgenommen und ausgelebt. Während die einen von der Sehnsucht nach den vertrauten Menschen oder der gewohnten Geografie sprechen, erzählen die anderen von der Vergangenheit, die sie vermissen. Bei den Menschen aus dem Balkan, aus Anatolien oder dem Orient, die in einem westeuropäischen Land leben, ist sie nach ärztlicher Diagnose häufig Ursprung eines Magengeschwürs. Wie oft hört man von Emigranten poetische Ausdrücke wie «Meine Heimat riecht vor meiner Nase wie eine Frühlingsrose!» oder «Ich möchte am Ort meiner Sehnsucht begraben werden!» Somit ist sie bei Emigranten bewiesen, ob viel beschäftigte Topmanager die Sehnsucht kennen, bleibt offen, zumindest bis zu einer geschäftlichen Niederlage.
Sehnsucht hilft auch bei Schwierigkeiten. Man kann sie zwischen sich selbst und sein neues Leben schieben. Am neuen Lebensort deckt man die Gefühle mit ihr bestens zu, flieht zu ihr und spricht nur von der schönen und verlorenen Vergangenheit, am besten dann, wenn das Leben in der Emigration einen vor Entscheidungen stellt oder gar plagt.
Ich hatte nach meiner Flucht in die Schweiz lange Zeit Sehnsucht nach den Schwalben, die im Frühling an der Decke des Gästezimmers im elterlichen Lehmhaus ihre Nester geflochten hatten und ständig durch die halb offenen Fenster ein- und ausflogen. Ich wollte und konnte viele Jahre nicht wahrhaben, dass das Lehmhaus des Vaters gar nicht mehr steht und dass er sich auf diesem Bodenstück, schon als ich ein Kind war, ein Haus im europäischen Stil - was immer das heisst - mit Giebeldach und dichten Fenstern gebaut hatte.
Für die Schwalben sind die Fenster des neuen Hauses undurchdringlich. Aus anderen Kulturkreisen stammend, wo viel mehr gemeinsam funktioniert, ist man hier plötzlich als Individuum auf sich gestellt und sollte die Gabe haben, in einem tiefen See schwimmen zu können. Die Sehnsucht will ich trotzdem nicht verlieren, verbessert sie doch eindeutig die Beziehung zur Vergangenheit.



Kebab ba.geh.

Ich habe manchmal das Gefühl, Kebabläden sind ein Magnet für mich, egal wo ich hingehe, befinde ich in mich ungewollt vor einem. Als ich ein Mal nervös auf einen Auftritt wartete und meine Zeit mit Kirchen- und Straßenbesuche der Ortschaft vertrieb, stand ich wieder vor einem Kebabladen. Und der ungewöhnliche Name „Kebab Ba.Geh.“ machte mich neugierig, sodass ich ohne zu zögern hinein ging. Es sah noch schön aus, dass das Wort Kebab in roter Farbe, Ba. in Grün und Geh. in Gelb gedruckt waren. Der Landsmann nahm meine Bestellung auf, in Schweizerdeutsch natürlich, fragte noch der Reihe nach: Kebab im Fladeebrot, Kebab im Tascheebrot, Kebab mit alles, koktailsose, yoghurt sose, Kebab scharf, Kebab mit Zwiebeln, Kebab hir esse usw. Es war eine grosse Herausforderung, bis ich auf all diese Fragen die richtige Antwort geben konnte. Ich ass also meinen Kebab, während die Yoghurtsause über meine Lippen herunterfloss. Es schmeckte, wie erwartet.
Als der Landsmann mit vollen Backen und fülligem Körper gerade keine Kunden hatte, nahm ich mich zusammen und fragte ihn nach dem ungewöhnlichen Namen seines Geschäftes. Mit etwas Wehmut versuchte er mir alles zu erzählen, was für bürokratische Schwierigkeiten er hatte in diesem Quartier bis er seinen Laden eröffnen durfte. Heute würden die drei Kinder dieses Gemeindebeamten, für den der Landsmann von vierzig verschiedenen Flüssen Wasser holen musste, also in Deutsch: viele Formalitäten erledigen, hunderte von Dingen aufbringen musste, fast jeden Mittag Kebab essen und jedes Mal denke er an den unbestechlichen Vater dieser Kinder. Als es dann darum gegangen sei, einen Namen für das Geschäft zu finden, habe der Landsmann eine Liste eingereicht, auf der etwa die Namen Kebab Swiss, Kebab Zürich, Kebab Ararat, Kebab Limmat, Kebab Rhein usw. gestanden seien. Alle Namen seien schon besetzt gewesen, habe der Beamte ihm ein paar Tage später brieflich mitgeteilt, und er müsse sich einen neuen Namen finden. Und der Landsmann musste an dem Tag zurück nach Hause, etwas deprimiert, dass er auch wegen dem Namen noch eine neue Hürde der Bürokratie überwinden musste.
Da sei ihm, als einem ehemaligen linken Mann, der aber heute nur Kebabkundschaft liebe, zu Hause auf dem blauen Sofa liegend, ein Buch eines linken Schweizers in seiner Bibliothek aufgefallen. Das Buch über die Politik und Geographie der Schweiz habe er schon früher gekauft, vor Jahren, als er noch kein Geschäft besass. So habe er die ganze Nacht in diesem Buch aufmerksam einen Namen gesucht. Er hoffte im Kapitel Geographie einen Namen zu finden, traute sich aber nicht, einen rauszuschreiben, hatte Bedenken, dass dieser Name schon von einem anderen Landsmann besetzt worden sei. Bevor er sich zum Schlafen gelegt habe, sei er zu seinem Glück auf den Artikel im Buch mit dem Titel „Bankengeheimnis“ gestossen und habe gefunden, dass dieser für sein Geschäft ein guter Name wäre. So war er erleichtert wie ein Stück Stroh und konnte endlich einschlafen.
Da er aber die zukünftige Kundschaft nicht erschrecken und ein Neinwort des Beamten nicht riskieren wollte, habe er am nächsten Tag beim Beamten auf der Gemeinde den Titel auf „Ba.Geh.“ gekürzt. Und natürlich dem Beamten gesagt, dass diese ungewöhnliche Buchstaben eine Sure im Koran seien, was der Beamte schön gefunden und ihm ein gutes Geschäft und eine schöne Zukunft in der Schweiz gewünscht habe. Jetzt denken einige Kunden, dass der Name des Ladens auch sein eigener Name sei, so kämen junge SchweizerInnen rein und grüssen ihn mit Worten „Hoi BaGeh, Kebab im Fladenbrot und scharf bitte“.
Der Name sei wirklich geschäftsbringend gewesen, habe ihm einen grossen Erfolg beschert. Und Junge mit muslimischen Hintergrund würden sehr gerne in sein Geschäft kommen, denn es habe in Kürze eine grosse Runde gemacht, dass Ba.Geh. eine Sure im Koran sei, da denken sie, dass das Fleisch helal et wäre, also von einem nach muslimischer Art geschächteten Tier.
Ich lachte mit ihm und wollte mich verabschieden, da bestellte er noch einen Kebab für mich und einen für sich und dazu noch Pepsi. Er erzählte mir vieles. Wenn ich ihm die Veranstaltungsbroschüre nicht gezeigt und ihn auf meine bevorstehende Veranstaltung nicht aufmerksam gemacht hätte, hätte ich kaum aus seinem Laden rausgehen können. Er müsse sich verschiedensten Menschen anpassen, sagte er noch, als wir in der Türe standen, dem dauerbetrunkenen Biertrinker wie dem Imam mit Bart, dessen Aufgabe nur dies sei, ihn, den Kebabladenbetreiber, jeden Tag auf muslimische Tugenden aufmerksam zu machen. Oder ein netter Mann komme ein Mal in der Woche, immer Montag am Mittag um 12.45 Uhr, in sein Geschäft. Dieser Mann, der so dünn wie ein Schilf und so blass wie Tannenbaumholz sei, bestelle seinen Kebab nicht ohne mindestens zehn Fragen zu stellen, beispielsweise ob das Fleisch biologisch und aus der Schweiz sei, die Tiere tiergerecht gehalten würden, das Futter der Tiere keine chemischen Substanzen enthalte, die zwei Tomatenscheiben nicht Horsol gezüchtet seien, die Kräuter von bekanntem biologischen Herstellern kommen, ob er rechne, wie viel Erdöl für den Transport dieser Ware gebraucht würde und noch andere für den Landsmann schwierige Fragen. Er erlebe viel, rief der Landmann mir nach. Dabei gehe es ihm nur darum, seine Familie zu ernähren.
Meine Veranstaltung an diesem Abend war eine Freude.


Yusuf Yesilöz
Autor, Übersetzer und Filmemacher, lebt in Winterthur; sein neuestes Buch heisst « Gegen die Flut » (2008).
http://www.yesiloz.ch