─ Martin Zingg
Wie viele Missverständnisse sind erlaubt?
 

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Neueren Angaben zufolge hat die Schweiz rund 7,6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Diese Menschen wohnen in einem der 26 Kantone, in einer von rund 2700 Gemeinden, und sie reden in vielen Zungen - die Schweiz hat bekanntlich vier offizielle Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch (seit 1938 offizielle Landessprache, seit 1996 teilweise auch Amtssprache). Deutsch reden 63,7 % der Bevölkerung, Französisch 20,4 %, Italienisch 6,4 %, Rätoromanisch 0,5 %. Natürlich müsste die Aufzählung der Sprachen weitergehen, in der Schweiz wird nämlich auch Spanisch gesprochen, Türkisch, Albanisch, Portugiesisch, Kroatisch usw.

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Der Autor, der in Basel schreibt, hat mit der Schauspielerin, die in Lausanne auf der Bühne steht, etwas gemeinsam, das sie beide auch mit dem Bildhauer in Lugano teilen: sie leben und arbeiten in der Schweiz und zugleich in je einem Sprachgebiet, das mitten in der Schweiz aufhört. Das heisst: sie arbeiten am Rande von grossen Sprachgebieten und sind über die gemeinsame Sprache jeweils verbunden mit einer Kultur, die über die nationalen Grenzen hinausgeht – mit Ausnahme der rätoromanischen Sprache und Kultur.
In der Schweiz stossen vier Sprachgebiete aufeinander, und zwar weitgehend lautlos. Sie nehmen einander kaum wahr. Und von jenen Sprachräumen, deren Anhängsel oder Ausläufer oder Endmoränen sie sind, werden sie auch kaum wahrgenommen. Die Deutschschweiz ist im Grunde genommen das Sizilien des deutschen Sprachraumes, die Romandie (die französischsprachige Schweiz) der Balkan Frankreichs, das Tessin sozusagen der Nordpol Italiens -
In ihren angestammten Sprachgebieten gehören sie jeweils einer Minorität an, die Tessiner, die Romands, die Deutschschweizer - aber das ist offensichtlich noch lange kein ausreichender Grund dafür, in der Schweiz miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn die Minderheitsverhältnisse, die auswärts gelten, formulieren sich im Innern der Schweiz neu. Die Deutschschweiz, von Deutschland aus gesehen ein Klacks, markiert in der Schweiz die Mehrheit. Deutsch ist dann die Sprache der Mehrheit. Wer mit der Mehrheit sprechen will, muss Deutsch sprechen, wobei diese Mehrheit am liebsten Mundart spricht, deutsche Mundart.

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Im Umgang mit der Deutschschweiz empfinden die Westschweizer und die Tessiner die Bevorzugung der Mundart als grösste Klippe. Denn die Westschweizer und Tessiner lernen in der Schule nicht einen der zahlreichen schweizerdeutschen Dialekte, die ja auch sehr viele Unterschiede kennen, sondern Standarddeutsch. Die Deutschschweizer wiederum haben oft Hemmungen, sich des Hochdeutschen zu bedienen, das sie lieber das Schriftdeutsche nennen. Es hat etwas Angelerntes, etwas Distanziertes und Distanzierendes; sie fühlen sich unsicher und neigen dazu, das Hochdeutsche in der Aussprache dialektal einzufärben und so eine hörbare Distanz zu schaffen zur Sprechweise, die man mit Deutschen - den Deutschen aus Deutschland - verbindet. Damit lässt sich wie nebenbei (und mit Aussicht auf Verständnis) auch eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit dieser Sprache kaschieren, deren Regeldichte viele davon abhält, sich darin zu äussern. Das Hochdeutsche hat tatsächlich für viele etwas Fremdes – und das, obschon die deutschen Fernsehstationen in der Deutschschweiz mit beträchtlichen Einschaltquoten rechnen können, und nicht nur Viva, Sat1 oder RTL. Der Dialekt hilft dann wieder zur Abgrenzung - die auch eine Eingrenzung ist, mit der wir uns aus dem Kulturkreis der Hochsprache ausschliessen. Wie die Elsässer, die Basken, die Iren oder die Südtiroler.

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Wie viele Missverständnisse sind denn erlaubt, damit ein Minimum an Verständnis dennoch möglich bleibt? Kann das funktionieren - ein Land, das so viele Sprachen spricht, und jedes Sprachgebiet schaut für sich? Hätte ein solches Land nicht längst und unwiderruflich auseinanderfallen müssen?
Es funktioniert. Und das Land fällt nicht auseinander.
Rund 2700 Gemeinden, ich habe die Zahl genannt, 26 Kantone, alle mit erstaunlich weit gehenden Befugnissen ausgestattet. Die Kantone haben sich im Lauf der Zeiten miteinander verbunden, weil sie mussten. Sie hatten keine Wahl. Die politische Notwendigkeit, einander zu verstehen, war gegeben, und sie haben sie so schnell wie möglich auf ein Minimum von Anlässen reduziert. Und natürlich kommt es immer wieder zu Missverständnissen, aber Missverständnisse kann es ja nur geben, wo es auch ein Gelingen, also ein Verständnis geben kann. Die Missverständnisse sind der Kitt, und den gibt es nur im Gespräch.
Einig ist man sich in der Schweiz, dass man einander möglichst in Ruhe lassen will. Egal, wo man lebt, welche Sprache man spricht. In vielen Belangen nimmt man einander über das Ausland wahr. Wer beispielsweise in der Romandie schreibt, wird in der Deutschschweiz oft erst dann wahrgenommen, wenn er zuvor auch in Paris wahrgenommen worden ist. In Paris wahrgenommen zu werden, ist aber nicht einfach. Schreibende aus der Romandie werden in Frankreich zwar problemlos verstanden, weil keine linguistische Barriere die Gebiete trennt, aber die Zugehörigkeit zur Frankophonie garantiert noch lange nicht den Zugang zur literarischen Welt Frankreichs. Diese ist traditionsgemäss sehr stark auf Paris ausgerichtet und nimmt das in ihren Augen Periphere – in diesem Fall: Schweizerische – kaum wahr.
Die Gemeinsamkeit der Sprache greift oft weniger als die Nationalität.

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In der Schweiz, wie in jedem mehrsprachigen Land, durchdringen und überlappen einander die mehreren Sprachen kaum. Sie existieren nebeneinander her, und die Sprachgrenzen trennen immer auch Mentalitäten. Das heisst: Jeder und jede darf etwas anderes für schweizerisch halten, und die Summe dieser Vorstellungen ist dann die Schweiz. Wer in der Schweiz sich selbst oder einem Gast aus dem Ausland erklären möchte, was typisch schweizerisch ist, gerät oft in grosse Verlegenheit - und diese ist typisch schweizerisch.
Übrigens ist das café complet eines der nicht so häufigen Wörter, die in der ganzen Schweiz verstanden werden. "Le café complet signifie un repas du soir, plus léger que le souper, composé de pain, fromage, beurre et confiture accompagnés de café au lait. En français de référence, le syntagme café complet désigne un petit déjeuner où la boisson est le café. La spécificité suisse romande consiste à désigner le plus souvent sous ce nom un repas léger pris le soir et non le matin. L'expression a été empruntée par les autres groupes linguistiques du pays."
(Dictionnaire suisse romand, 1997)

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Indem sie die bestehende Sprachenvielfalt zwar zulässt, aber lieber noch eine weitere Sprache hinzunähme, das Englische, möchte sich die Schweiz gelegentlich um all die Missverständnisse drücken, die in der Mehrsprachigkeit lauern. Man entgeht dem Missverständnis, indem man einander ausweicht, so gut es eben geht. Denn die verschiedenen Sprachen sind ja immer verbunden mit verschiedenen Kulturen, das ist bisweilen anstrengend.
Der Gebrauch des Englischen mag vorübergehend das Gespräch und das Verständnis erleichtern - am Ende erinnert es vor allem an das Problem, das es zu lösen vorgibt und dem es nicht entrinnen kann. Deswegen oder trotzdem: Viele lernen lieber Englisch als eine weitere Landessprache. Englisch, die fünfte Landessprache. Und einiges bleibt Lateinisch: Confoederatio Helvetica, auf jedem Fahrzeug als CH zu lesen, oder Pro Litteris oder Pro Juventute etc.

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Nicht nur zwischen den verschiedenen Sprachen kann es schwierig werden, auch innerhalb einer Sprache. Wie so oft, gibt auch darüber die Literatur die genauesten Auskünfte. Deutschschweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller schreiben nicht immer so, wie sie reden. Und sie schreiben ihre Werke in einer Schriftsprache mit etlichen Besonderheiten. Mit dem übrigen deutschen Sprachraum sind sie zwar aufs engste verbunden, und dennoch trennt sie eine Grenze, die spätestens dann spürbar wird, wenn sie in einem deutschen Verlag publizieren. Oft haben sie sich beträchtlichen sprachlichen Anpassungszwängen zu unterwerfen – sogenannte Helvetismen etwa werden nicht immer gern gesehen. Bisweilen bekommen Texte aus der Schweiz ein Doppel-S verpasst, die Ligatur ß, mit deren Abschaffung die Schweiz vor dem Zweiten Weltkrieg offiziell einen Sonderweg eingeschlagen hat. Was einst als typographische Eigenheit der Deutschschweizer gedacht war, ein Mittel der Abgrenzung innerhalb der gemeinsamen Sprache, wird bei der Einfuhr nach Deutschland gleichsam zurückerstattet. Die Sprachfrage ist dann auch eine Machtfrage. Statt parkieren steht dann parken, der Fahrausweis wird zum Führerschein, und plötzlich ist wieder unklar, ob die Perfektform von sitzen mit sein oder mit haben gebildet wird. Daraus werden Merkmale, die auch dann eine simple nationale Zuordnung eines literarischen Werkes möglich machen, wo sie inhaltlich und formal vollkommen unwichtig ist.
Aber da haben es die Österreicher nicht einfacher, die immer wieder erklären müssen, dass eine Trafik ein Tabakladen ist. Als Österreich der EU beitrat, konnte das Land 23 Ausdrücke für das normierte EU-Deutsch retten, darunter Beiried für Roastbeef und Kren für Meerrettich.

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Varietäten gibt es in allen Sprachen, und sie sind selten zufällig. Sie haben immer mit Geschichte zu tun, sie sind geprägt worden von einer gesellschaftlichen Entwicklung und wirken nun ihrerseits prägend auf diese. Im Tessin werden Wendungen gebraucht, die man in Italien kaum versteht. Die Romandie kennt Ausdrücke, die in Frankreich irritieren können. In der Deutschschweiz ist es nicht anders.
Während es in der Schweiz der Halbfinal heisst, schreibt man in Deutschland und Österreich das Halbfinale und meint das gleiche. Die Hagebuche wiederum gibt es unter diesem Namen nur in der Schweiz, in den anderen deutschsprachigen Ländern heisst sie Weissbuche, zweifelsfrei identifizierbar bleibt das Gewächs stets unter seiner lateinischen Bezeichnung Carpinus betulus. Von einer Gelse wird man in Österreich gestochen – in Deutschland und der Schweiz besorgt das eine Mücke oder eine Schnake. Nach einem Flaumer, einem Gerät mit Baumwollzotten zur Reinigung des Bodens, wird man ausserhalb der Schweiz vergeblich fragen. Wer in der Schweiz beim Bund arbeitet, leistet nicht, wie in Deutschland, seinen Militärdienst, sondern ist angestellt in der eidgenössischen Verwaltung. Und das Knabenschiessen ist nicht die bewaffnete Jagd auf Knaben, sondern ein traditionelles, jährlich stattfindendes Wettschiessen für 13- bis 16-jährige Jugendliche der Stadt Zürich, an welchem früher nur Knaben teilnehmen durften.

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Dass sowas erklärt werden muss, kann nie schaden: es hält das Gespräch in Gang. Und überdies haben sprachliche Varietäten einen gewissen Unterhaltungswert, weil sie etliche Missverständnisse ermöglichen. Im wunderbaren Variantenwörterbuch der deutschen Sprache lässt sich auf beinahe tausend Seiten nachlesen, wie die Besonderheiten der deutschsprachigen Regionen aussehen. Die Erfahrungen, die man mit diesem Buch machen kann, sind übrigens nicht nur amüsant, sie sind auch heilsam. Denn die Fülle der versammelten Besonderheiten relativiert und blamiert die schlichte Vorstellung von richtig und falsch und damit von Standardsprache: so klar und unzweifelhaft lässt sich das schon lange nicht mehr definieren. Das eine Wort kann des anderen Variante sein, und umgekehrt. Das Variantenwörterbuch spricht im Untertitel konsequenterweise von der Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Jede Sprache ist ein Speicher und ein Schmelztiegel. Und damit eine Standardsprache, heisst das auch. Unentbehrlich werden die vielen Standardsprachen in der Spannung zueinander. Die Suche nach dem richtigen Wort klärt immer auch die Sache, um die es geht.

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Wenn das eine Wort des anderen Variante ist, dann geht es längst um mehr als bloss um Sprache. Dann kann des einen Verständnis ohne weiteres des anderen Missverständnis sein - und das eine muss das andere klären. Die Geschichten, welche die schweizerischen Sprachteilnehmer sich selbst und einander zu erzählen haben, um miteinander klarzukommen, sind im Grunde nicht viel anders als jene, die Europa sich selber auch erzählen muss. Mit noch mehr Sprachen. Den Chancen, hier Missverständnisse zu produzieren, entspricht der Charme der Bemühungen, ihnen zu entkommen. Man muss diese Missverständnisse einfach lieb haben. Sie ersparen uns vieles. Sie mahnen uns zur Vorsicht im Umgang miteinander und manchmal nähren sie auch ein gesundes Misstrauen gegen alle Macht, die sich hinter Sprachen verbirgt.


Martin Zingg
Literaturkritiker, Essayist und Publizist, lebt in Basel.