─ Yvette Sánchez
Störfaktoren als schöpferisches Prinzip
 

Störfaktoren als schöpferisches Prinzip: José Ortega y Gasset setzte das authentische Leben mit einem Schiffswrack gleich. Er erklärte, dass die Menscheit sich durch Kultur über Wasser zu halten versucht, indem sie sich auf ein Konzept des Krisenheldenmuts verlässt und den immanenten Störfaktor als das allgemeingültige schöpferische Prinzip anerkennt.

„Schon mal zu kommunizieren versucht, schon mal etwas missverstanden. Macht nichts, versuche es noch einmal, missverstehe es noch einmal, missversteh es besser!“ (Samuel Beckett, hier angepasst ans Thema der Konferenz)
Samuel Becketts Aussage markiert den Paradigmenwechsel: Wir zeigen mehr Toleranz gegenüber Fehlern, die so zur Regel werden und nicht mehr Ausnahme bleiben. Fehler könnten ein Innovationspotential in sich tragen und zu einer treibenden Kraft für ungeplante Erfolge werden. Missverständnisse und Systemfehler stehen nicht mehr für Misserfolg, Qualitätsminderung und Vertrauensverlust. Die Rehabilitierung des Misserfolgs führt zu einer neuen Kultur des Fehlers, die die Abweichung von den Normen sucht. Sie propagiert die Nutzbarmachung von Systemfehlern als versteckt produktive oder gar evolutionäre Voraussetzung für ein System der ersten Stunde. So weist die antiperfektionistische Kultivierung der Missverständnisse in Richtung Rechtfertigung, vielleicht sogar Verherrlichung des Fehlerhaften: errare ist nicht nur menschlich, sondern göttlich. Das Irren regt zum Experimentieren an und fördert so die Innovation.

Wenn man von Missverständnissen spricht, geht man von einer Vorstellung von richtig und wahr aus. Der Bruch von Normen und Regeln und das Umgehen des Gewöhnlichen ist ein wesentlicher Zug der Kunst geworden. Fehler und Missverständnisse haben ein immanentes schöpferisches Potential, das bewusst angewendet werden kann. Wir machen die Fehler, die wir machen können.
Hoch technologisierte Produktionsformen schaffen im Bereich der Medienkunst neue Fehlernischen, die dem Beispiel von Low Budget-Produktionen folgen, die in kleinen YouTube-Fenstern oder sogar auf den Displays von Mobiltelefonen gezeigt werden. Sublime Unreinheit oder Chaos als Artefakt, Beschädigung oder Verzerrung an der Schnittstelle von Kunst und Technik.
Die Kunst und das Scheitern unterhalten eine gegenseitige Abhängigkeit: die affektive Kraft der Unzulänglichkeit, stotternde künstlerische Prozesse und Systeme an Stelle von tadellosem Normalmass wecken unser Interesse. Wir können uns auf Rudolph Arnheims Formel berufen: Defizit, Mangel oder Patina im Bild machen den Unterschied in der Kunst.

Diese Ästhetik des Fehlers und der beglaubigten Missverständnisse in der Kunst charakterisieren ihre Tragweite und ihren Stellenwert im Unterschied zu Fehlern bei pragmatischen Handlungen. Der Komponist Mauricio Kagel verwendete Missverständnisse und Mängel als ein Gestaltungsmittel seiner schöpferischen Technik, zum Beispiel falsche Tonleitern, eine hinkende Bewegung, der Zerfall einer Sängerstimme als Grundlage für die Partitur. Der Fehler ist demnach kein Unruhestifter.
Das Thema liegt in der Luft, wie die Ausstellung The Art of Failure im Kunsthaus Basel-Land im Frühling 2007 gezeigt hat. Da war ein Video der Berliner Künstlerin Asta Gröting zu sehen, das – als Aufsicht gefilmt – die skurrile Choreographie des täglichen darwinistischen Kampfes um einen städtischen Parkplatz mit der optimierenden Trial-und-Error-Methode zeigte.


Asta Groeting, Parken, 2004



Ed Young, Dialogue, 2007

Eine zweite Videoarbeit, die ausgezeichnet zu diesem Meeting passt, ist eine des südafrikanischen Künstlers Ed Young. Er lässt die zwei renommierten und äusserst redegewandten Kunstkritiker Francesco Bonami und Nicolas Bourriaud halb-taub dialogisieren, indem er ihre elaborierten Ausführungen wegschneidet und nur noch nackte Aussagen, Versprecher, unartikuliertes Stottern und die verlegenen Ähs und Mmhs stehen lässt.

Durch diese Montage (oder besser Demontage) drückt Young seine Skepsis gegenüber den Mitteln der Sprache aus. Letztendlich scheint der Dialog ja zu funktionieren, und es bestehen keine Missverständnisse. Trotz der Kraft und Energie, die diese heikle Kommunikations- und Auslassungssituation ausstrahlt, legt er die Skrupel gegenüber den Ausführungen von Kunstkritikern offen. In literarischen Texten findet man in gekünstelter, verzerrter und abweichender Rhetorik offensichtliche Fehler oder Widersprüchlichkeiten, die eine Sprachkrise und eine sprachliche Abnormität reflektieren. Die rhetorische Figur der Aposiopesis kann als ein Beispiel dienen: ausdrucksvoller Unterbruch, Verstummen, finale Stummheit, Stille oder stagnierende Kommunikation deuten ein Echo des Unaussprechlichen und des Versagens der Sprache an.

Aber trotz der ganzen, zu Erkenntnis anregenden Kraft der Fehler und der Misserfolge dürfen wir den bitteren, normalen, lästigen, krassen Fehler nicht vergessen, die unergiebige schlechte Arbeit, die Quelle von Verärgerung, die zu einem totalen Systemabsturz führen kann.
Unsorgfalt, Einbildung, Selbsttäuschung, Fehlschluss, Vernachlässigung, Versäumnis, Unordnung und Zufall, sie alle können eine Fehlerquelle sein und zu Missverständnissen führen.
Anderseits können Funktionsstörungen, Behinderungen, Mängel, Unzulänglichkeiten und falsche Programmation paradoxerweise eine korrigierende Wirkung haben und grössere Fehler vertuschen.
Programm oder Fatum: Es ist eine ziemlich heikle Angelegenheit, vermeidbare von notwendigen Fehlern zu unterscheiden, beabsichtigte von zufälligen, die sich unentdeckt einschleichen. Wir sprechen hier nicht vom vorsätzlichen Unsinn, Quatsch oder Humbug (wie es Karl Valentin bezeichnete).


Goscinski, Siegespodest, 2006

Erfolg und Misserfolg sind allgemein eine paradoxe (falsch korrekt) und ungewisse Angelegenheit und von einer schwer einschätzbaren Zufälligkeit, Unvorhersagbarkeit und Wahrscheinlichkeit geprägt.
Risiko ist planbarer und, das Defizit eingeschlossen, es zahlt sich aus. Eine Null-Fehler-Kultur ist risikoreicher. Das Risiko entspricht der vernünftig kalkulierbaren Vorhersage von möglichen Systemfehlern und vermeidbarem Schaden.

(Übersetzt von Adi Blum)


Yvette Sánchez
Professorin für spanische Kultur und Literatur an der Hochschule St. Gallen
http://www.kwa.unisg.ch.